"Die drei Megatrends der Arbeitswelt"

Professor Dr. Ulrich Walwei

Ein Gespräch mit Professor Dr. Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, sowie Mitglied des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingerichteten Rats der Arbeitswelt.

 

Herr Professor Dr. Walwei, warum suchen in Deutschland gerade so viele Unternehmen, Schulen, Restaurants, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen etc. händeringend nach Arbeitskräften?

Wir erleben zurzeit eine Verkettung verschiedener Umstände: Über anderthalb Dekaden hatten wir ein sehr starkes Wirtschaftswachstum und eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die auch noch nachwirkt – das ist ja eigentlich das Neue, dass es selbst in Krisenzeiten schwierig ist, Personal zu finden. Denn Unternehmen entlassen auch in schlechten Zeiten nicht mehr so schnell, wohl wissend, dass sie beim nächsten Wirtschaftsaufschwung Schwierigkeiten hätten, das qualifizierte Personal wiederzubekommen. Da spielt auch die demografische Entwicklung mit hinein: Wir beobachten, dass das Arbeitskräfteangebot bereits knapper geworden ist, insbesondere bei jüngeren Menschen, weil die im geringeren Maße in den Arbeitsmarkt nachrücken als die älteren geburtsstarken Jahrgänge den Arbeitsmarkt verlassen. Und wir haben auch noch mit dem Strukturwandel zu tun, Digitalisierung auf der einen und Dekarbonisierung auf der anderen Seite. Da entstehen auf Unternehmensseite neue Personalbedarfe, um diesen Wandel mitzugestalten. Gleichzeitig geraten Bereiche unter Druck, in denen die Arbeitsbedingungen nicht so attraktiv sind, etwa wegen einer nicht-konkurrenzfähigen Vergütung oder mit Arbeitszeiten am Wochenende oder in der Nacht.

Welches Personal wird gesucht?

Arbeitskräfte mit digitalen Kompetenzen, um die elektronische Infrastruktur aufzubauen und nutzbar zu machen. Es gab diese Bedarfe auch schon in der Vergangenheit, aber nicht in dieser Intensität und mit diesem zeitlichen Druck. Wenn digitale Technologien zum Einsatz kommen, wird aber auch wichtiger, was den Menschen im Unterschied zur Maschine ausmacht: Die Kreativität und seine sozialen Kompetenzen. Und dann gibt es noch den Bereich Dekarbonisierung, die Reaktion auf den Klimawandel und weitere ökologische Aspekte. Das ist eine riesige Infrastrukturaufgabe, dafür braucht man so viele gewerblich-technische Arbeitskräfte, wie man es schon lange nicht mehr gesehen hat, die das Ausbildungs- und Hochschulsystem derzeit in diesem Maße aber nicht bereithält.

 

„Es wird wichtiger, was den Menschen im Unterschied zur Maschine ausmacht.“

 

Welches sind die Megatrends der Arbeitswelt und worauf müssen sich die Unternehmen einstellen?

Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung – das sind die Haupttrends. Beginnen wir mit der Demografie: Jahrzehntelang haben Unternehmen davon profitiert, dass junge Arbeitskräfte in die Unternehmen kommen, sie befruchten und weiterentwickeln. Das sorgte in den Teams dafür, dass die neuen Kenntnisse vorhanden sind. Das ist jetzt kein selbstverständlicher Prozess mehr, weil die Jahrgänge, die nachrücken, kleiner werden. Deshalb ist es nun essentieller als bislang, auch die Belegschaft, die schon da ist, fit und anschlussfähig zu halten in den Entwicklungen der jeweiligen Berufsfelder. Das lebenslange Lernen wird immer wichtiger. In der Vergangenheit haben gerade Ältere oft nicht an Weiterbildungen teilgenommen. Aber für ein mehr als 40-jähriges Berufsleben in einer sich schnell wandelnden Welt reicht es nicht, wenn man einmal ein Studium oder einen Abschluss gemacht hat. Für diese Weiterentwicklung müssen Unternehmen ihre Leute oft erst noch gewinnen. Auch müssen die Unternehmen wettbewerbsfähig sein bei der Rekrutierung, der Neugewinnung von Arbeitskräften. Und sie müssen Leute halten. Die Gesundheit im Auge behalten. Prävention betreiben und Menschen die Perspektive eröffnen, dass sie im Unternehmen auch gesund altern und ihre Erwerbsfähigkeit erhalten können. Darauf werden die Unternehmen angewiesen sein. Und sie werden sich überlegen müssen, was sie rentenberechtigten Personen oder Menschen, die bereits in Rente sind, anbieten können – schließlich sind die gut ausgebildet und kennen sich in den Unternehmen aus. Da muss man sich Rahmenbedingungen überlegen, unter denen auch für diese Personen eine Weiterbeschäftigung interessant sein könnte.

 

„Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung – das sind die Haupttrends.“

 

Werden durch die Digitalisierung Arbeitsplätze wegfallen?

Gesamtwirtschaftlich betrachtet: nein. Es wird Verschiebungen geben zwischen Sektoren und Betrieben. Und die Anforderungen an die Unternehmen und die einzelnen Arbeitskräfte verändern sich stark, digitale Kompetenzen werden wichtiger und auch nicht-digitalisierbare Kompetenzen wie soziale Kompetenzen, zum Beispiel Problemlösefähigkeit und Teamfähigkeit. Unternehmen dürfen auf keinen Fall die Digitalisierung verpassen, das würde ihre Wettbewerbsfähigkeit und die Anschlussfähigkeit ihrer Beschäftigten an den Arbeitsmarkt verschlechtern.

Wie wird die Digitalisierung das Arbeiten verändern?

Mobiles Arbeiten ist auch in Folge der Covid-19-Pandemie bereits selbstverständlich geworden. Teams spielen eine immer größere Rolle, es soll ja nicht jeder auf seiner eigenen Insel arbeiten. Aber dafür muss der digitale Austausch auch funktionieren, sonst kommt für die Unternehmen am Ende weniger dabei heraus als vorher. Sie müssen Beschäftigten auf der einen Seite Flexibilität bieten, den Betrieb aber auch als sozialen Ort beibehalten. Das muss man austarieren – Austausch da, wo er nötig ist, und Flexibilität, wo sie möglich ist, etwa in bestimmten Lebensphasen in Bezug auf Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen oder auch die Work-Life-Balance. Da bietet die Digitalisierung gute Möglichkeiten, Erwerbs- und Lebensinteressen in Einklang zu bringen. Aber die Freiheit des zeit- und ortsunabhängigen Arbeiten birgt auch die Gefahr der Entgrenzung, da muss man gute Regelungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern finden.

Was ist nachhaltige Arbeit und welche Bedeutung hat sie in der Arbeitswelt?

Es gibt zwei Perspektiven auf das Thema der nachhaltigen Arbeit: aus der Perspektive von Arbeitsinhalten und Arbeitsgestaltung, und dann noch im Hinblick auf die ökologische Nachhaltigkeit. Ich glaube, wir sind erst am Anfang eines Prozesses, in dem Arbeit nicht nur als Momentaufnahme betrachtet wird. Für mich gehört dazu, dass eine Erwerbsbiografie am Ende des Tages erfolgreich ist, das bedeutet, dass sie stabil ist, auskömmlich und dass ich die Fähigkeiten habe, mit wechselnden Anforderungen zurechtzukommen. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Gesundheit: Das Berufsleben ist ein langer Lauf, und wie beim Marathon will ich ja nicht am Ende ins Ziel krabbeln, sondern noch aufrecht laufen. Das bedeutet, dass ich nicht irgendwo unterwegs zu viel Energie lassen darf, das wird am Ende bitter bestraft. Wenn ich mir meine Kräfte so einteilen kann, dass ich am Ende der Erwerbsbiografie sogar noch offen bin für weitere Angebote – das würde ich unter nachhaltiger Arbeit verstehen.

Auszubildende entscheiden sich zunehmend für Berufe mit umweltfreundlichen Tätigkeiten – zu diesem Ergebnis kommt das IAB in einer seiner jüngsten Studien. Eine zusätzliche Motivation für Unternehmen, sich nachhaltiger auszurichten?

Ich glaube, dass es für Unternehmen heute wichtig ist, dass sie – wie bei der sozialen Verantwortung – auch bei der ökologischen Verantwortung keine Zweifel lassen. Das wäre ein guter Move, um beim Nachwuchs bessere Chancen zu haben und auch positiv auf die Belegschaft wirken, um Arbeitskräfte zu halten. Beides müssen Unternehmen im Blick behalten. Nachhaltigkeit kann auch die Identifikation mit dem eigenen Unternehmen stärken. Die Studie macht zum einen deutlich, dass junge Menschen sich überlegen, wie zukunftsfähig eine Branche oder ein Beruf ist, bevor sie sich bewerben. Nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen haben es offenbar leichter, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Doch viele Berufe, die momentan noch umwelt- oder klimaschädliche Tätigkeiten beinhalten, werden auch in Zukunft gebraucht. Damit diese Berufe wieder attraktiver werden, müssen sie zum einen insgesamt umwelt- oder klimafreundlicher werden. Zum anderen sollten die Aus- und Weiterbildungsinhalte aller Berufe – insbesondere die umwelt- oder klimaschädlichen Tätigkeiten – so angepasst werden, dass die Auszubildenden auf zukünftig ökologisch nachhaltigere Tätigkeiten vorbereitet werden und die Transformation auch im eigenen Unternehmen mit vorantreiben können.

 

„Nachhaltigkeit kann auch die Identifikation mit dem eigenen Unternehmen stärken.“

 

Könnte der Fachkräftemangel die digitale und ökologische Transformation ausbremsen?

Genau, das ist das Hauptrisiko. Und dann haben wir ganz andere Probleme – nicht die Angst, dass uns die Künstliche Intelligenz die Arbeitsplätze wegnimmt, sondern dann haben wir die Digitalisierung verpasst und unsere Wettbewerbsfähigkeit verloren. Dasselbe gilt für die Dekarbonisierung. Dann haben wir hier Umweltkatastrophen, und die sind für die Wirtschaft wesentlich schwerwiegender als das, was jetzt an Umsteuerung nötig ist. Im Umweltbereich wäre das Nicht-Handeln ein großes Risiko. Damit wir diese Transformation wuppen, ist es entscheidend, dass die Fachkräfte jetzt zur Verfügung stehen. Deshalb liegen aus meiner Sicht die Herausforderungen bei der Einwanderung und auch bei der Aktualisierung der Berufsinhalte. Digitale Kompetenzen und Green Skills müssen schnell in die Berufsordnungen hineinkommen, um die jungen Menschen auszubilden und diejenigen, die bereits im Job sind, nachzuschulen. Außerdem muss man gucken, wo wir in Deutschland noch Fachkräftepotenzial haben – zum Beispiel bei den Teilzeitjobs, wo einige Personen vielleicht gerne mehr arbeiten würden, oder bei älteren Personen und bei Personen mit ausländischen Staatsangehörigkeiten. Und dann muss man sich ansehen, ob das Steuer- und Transfersystem ausreichend Anreize für Arbeit schafft.

Wer muss jetzt was tun?

Für die Digitalisierung sind die Netzkapazität und ein schnelles Internet überall die Grundvoraussetzung. Da muss der Staat den Rahmen schaffen, damit Unternehmen auch gut vorankommen. Und die Unternehmen müssen die Initiative und Kreativität aufbringen, die neuen Möglichkeiten zu nutzen, indem sie zum Beispiel neue Geschäftsmodelle entwickeln, digitale Angebote machen und zeigen, dass ein nachhaltiges Wirtschaften auch möglich ist.

Zur IAB-Studie

Interview: Katja Tamchina

Foto: Wolfram Murr, Photofabrik

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