"Berufsbildung als Ort denken, von dem aus Karrieren gestartet werden"

Barbara Hemkes

Ein Gespräch mit Barbara Hemkes, Arbeitsbereichsleiterin für Innovative Weiterbildung am Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB).

Frau Hemkes, im Moment ist in der Arbeitswelt viel von Future Skills die Rede – welche Kompetenzen müssen wir beherrschen, um in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen?

Das Spannende ist: Es nennt sich Future Skills, aber es sind Skills, die gestern schon wichtig waren und heute noch wichtig sind, eben nicht erst in Zukunft. Der Gedanke dahinter: Es braucht spezifische Fähigkeiten oder Kompetenzen, um Zukunft gestalten zu können. Und die liegen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Zum einen geht es um fachliche Kompetenzen, die wir jetzt im Zuge der digitalen und nachhaltigen Transformation brauchen – wenn wir zum Beispiel Energie einsparen wollen, dann muss irgendjemand die neuen Heizungssysteme einbauen und das auch können. Es geht aber auch darum, die massiven Veränderungen, die wir an allen Ecken und Enden erleben, gesellschaftlich zu bearbeiten und für das Individuum bewältigbar zu machen. Zu erkennen, wo man selbst agieren kann und den Umgang mit den Sachverhalten zu beherrschen, auf die man erst einmal keinen Einfluss hat. Wir müssen mit anderen zusammenarbeiten und uns austauschen, unser Wissen und unsere Fähigkeiten sind verteilt, zudem arbeiten wir an unterschiedlichen Orten auf der ganzen Welt. Deshalb brauchen wir soziale Kompetenzen, um gemeinsam handeln zu können, denn die Herausforderungen und Veränderungen, die wir derzeit erleben, sind nicht mehr individuell angehbar.

 

„Es braucht spezifische Fähigkeiten oder Kompetenzen, um Zukunft gestalten zu können.“

 

Zählt Nachhaltigkeit zu den Future Skills?

Sind die Future Skills Teil der nachhaltigkeitsorientierten Kompetenzen oder umgekehrt? Das ist eine müßige Debatte. Es gibt eine hohe Übereinstimmung darüber, was als Future Skills und was unter Nachhaltigkeitskompetenzen diskutiert wird. In Deutschland haben wir Nachhaltigkeit ja eher unter ökologischen Aspekten eingereiht mit den herausragenden Themen von Klimaschutz und Biodiversität, im angelsächsischen Raum spricht man häufiger von der Twin Transformation, die die digitale und die nachhaltige Transformation umfasst.

Wer vermittelt diese Nachhaltigkeitskompetenzen den jungen Menschen, die gerade in der Ausbildung sind?

Das ist die Gretchenfrage. Wir haben mit der Aktualisierung der Standardberufsbildpositionen einen Riesenschritt nach vorne gemacht. Digitalisierung und Nachhaltigkeit spielen eine zunehmend größere Rolle in der Arbeitswelt, deshalb sollen alle jungen Menschen schon während ihrer Ausbildung auf die damit verbundenen Kompetenzanforderungen vorbereitet werden. Bislang sind die Standardberufsbildpositionen aber wenig bekannt, ob und wie sie in der Ausbildung aufgegriffen werden, wissen wir nicht. Die Umsetzung handhabbar zu machen, dafür ist jetzt einiges zu leisten. Das ausbildende Personal – Ausbilder:innen in den Betrieben, Berufsschullehrer:innen – ist dabei der Schlüssel, um die nachhaltigkeitsorientierten Kompetenzen in die Ausbildung einzubinden. Wenn ein Unternehmen Nachhaltigkeit für sich als wichtig erachtet, dann wird es diese über kurz oder lang in die Ausbildung bringen, einfach um die Fachkräfte zu haben, die Nachhaltigkeit mit voranbringen können. Und die Auszubildenen selbst bringen das auch mit rein; allerdings der Ausbildung vorgeschaltet, indem sie an ihren Beruf oder ihren Arbeitgeber den Anspruch stellen, dass er sich an sozial und ökologisch verantwortlichem Handeln in der Wirtschaft orientiert.

 

„Digitalisierung und Nachhaltigkeit spielen eine zunehmend größere Rolle in der Arbeitswelt.“

 

Die Unternehmen in Deutschland brauchen Personal, um die Digitalisierung und auch die Dekarbonisierung voranzubringen. Doch Fachkräfte und Auszubildende sind rar – ist quantitativ zu wenig Nachwuchs da oder ist er falsch ausgebildet oder beides?

Zu wenig Ausbildungsplätze und viel zu viele junge Menschen, die einen haben wollten – so war es, solange ich denken konnte. Jetzt beklagen die Betriebe, dass sich zu wenig junge Menschen auf Ausbildungsplätze bewerben und dass die, die sich bewerben, noch gar nicht reif sind für eine Ausbildung. Was von den Auszubildenen erwartet wird und was die Auszubildenden von ihrer Ausbildungsstelle erwarten, das passt oft nicht zusammen. Dazu haben wir den demografischen Wandel, und viele junge Menschen haben höhere Bildungsziele als früher – was gesellschaftlich natürlich großartig und eigentlich unterstützenswert ist, wenn die jungen Menschen mehr lernen wollen. Die erhöhte Bildungsaspiration geht aber zum Teil zu Lasten der Berufsbildung, weil diese nicht als Ort für diese höheren Bildungsziele gesehen wird.

Das heißt, es entscheiden sich zu viele junge Menschen in Deutschland für ein Studium?

Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, es gibt eine höhere Bildungsaspiration, die drückt sich natürlich auch darin aus, dass sich mehr Menschen für ein Studium entscheiden. Wir hatten 2013 tatsächlich das erste Mal die Situation, dass wir gleich viele Studienanfänger:innen hatten wie neue Auszubildende. Aber zu sagen, weil so viele studieren wollen, gibt es die Nachwuchsprobleme in der Ausbildung, wäre eine Verkürzung in der Analyse der Situation.

Wie kann man die Perspektive Berufsausbildung attraktiver machen für junge Leute?

Ich habe ein Problem damit, nur auf Attraktivität zu setzen – dann wären wir wieder bei reinen Werbemaßnahmen. Diese Kampagnen laufen ja bereits. Ich glaube, dass es nicht mit Image-Kampagnen getan ist. Vielmehr muss sich die Berufsbildung überlegen, wie sie jungen Menschen eine echte Perspektive für ihre Erwerbsleben bieten kann. Für mich liegt der Schlüssel in einer doppelten Strategie: Die Berufsbildung muss stärker die inkludieren, die strukturell benachteiligt sind – zum Beispiel junge Menschen mit Migrationshintergrund, die haben oft Probleme, einen Ausbildungsplatz zu finden. Das gilt für andere Personengruppen auch, etwa Jugendliche mit Handicaps. Die Anstrengungen, auch denen eine Chance zu geben, die sich am Anfang schwertun werden, müssen erhöht werden, und diese Anstrengung muss natürlich auch in den Betrieben erfolgen. Das ist das eine. Und das zweite ist, dass man die Berufsbildung viel stärker als einen Ort denken muss, an dem Bildungsaspirationen bedient und von dem aus Karrieren gestartet werden können. Das heißt, Berufsbildung ist nicht nur die Ausbildung, sondern nach der Ausbildung hat man viele Möglichkeiten, die eigene Bildungsbiografie fortzuführen. Man kann ins Studium gehen, man kann berufliche Fortbildungen machen. Mit Aufstiegsfortbildungen kann man Führungsverantwortung wahrnehmen, man kann sich aber auch weiterbilden, um zur echten Spezialistin zu werden, zum Beispiel im Rahmen der Energiewende. Hier muss die Berufsbildung ihr Angebot ausbauen.

 

„Ich glaube, dass es nicht mit Image-Kampagnen getan ist.“

 

Vermutlich nicht nur bei der Ausbildung, sondern auch bei der Weiterbildung in einer sich schnell wandelnden Welt?

Auf jeden Fall – die Veränderungen finden jetzt statt und müssen jetzt gestaltet werden, und dafür brauchen junge und alle Beschäftigten passende Aus- und Weiterbildungen.

Wie können Unternehmen ihre Mitarbeitenden zum lebenslangen Lernen motivieren?

Ich schrecke davor zurück, dies mit dem Hinweis zum alleinigen Problem der Individuen zu machen. Meine Frage ist vielmehr: Welche Möglichkeiten und Strukturen werden den Beschäftigten gegeben, sich einzubringen und weiterbilden zu können? Wie sind wir denn aufgestellt in der Arbeitswelt? Wird da nicht eher kritisch geguckt, wenn dort jemand nochmal eine Weiterbildungsmaßnahme macht? Weiterbildung hat aus meiner Sicht noch viel zu wenig Einzug in die Selbstverständlichkeit des Arbeitslebens gehalten. Und das nicht nur im Sinne einer Weiterbildungskultur, sondern auch substanziell – über Freistellungsregelungen, über finanzielle Unterstützungen, über Entwicklungsmöglichkeiten, die aufgezeigt werden, über Beratung dazu in den Betrieben. Ich glaube, dass Betriebe an der Stelle sehr kreativ sein können und vielfältigste Möglichkeiten haben, sich über betriebliche und außerbetriebliche Bildung weiter zu entwickeln. Ich halte es auch für wichtig, dass Weiterbildung stärker nachfrageorientiert aufgebaut wird. Wir haben immer noch ein System, in dem Seminare angeboten werden, und die werden dann nachgefragt oder nicht. Wir haben herausgefunden, dass es viel besser ist, im Dialog zwischen Betrieben und Weiterbildungsanbietern oder in der Region gemeinsam Weiterbildungsmaßnahmen zu entwickeln, die dann wirklichen passen, für den Betrieb, für die Region. Mit öffentlicher Förderung, so wie sie bisher erfolgt, ist dies aber schwierig, da dadurch zumeist Maßnahmen finanziert werden, nicht aber die Strukturentwicklungen in der Branche. Hier muss man sich nochmal über die Förderstrategie Gedanken machen, um gerade mittlere und kleinere Betriebe dabei zu unterstützen, ihre Weiterbildungsmöglichkeiten zu erkennen und zu nutzen.

Interview: Katja Tamchina

Foto: BIBB

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